Begegnungen

Der Tag fing schon blöd an. Verschärfte sich, als die Kette am Fahrrad auf dem Weg ins Büro riss und alle Planungen damit im Winde zerstoben. Aber die Krankenkassenkarte des Kindes musste nach Feierabend trotz allem dringend beim Doc nachgeliefert werden, damit der seine Abrechnung machen kann. Also nachmittags Umstieg auf Bus. Mit dem Wissen, dass ich 30 Minuten habe, bis der nächste – und damit letzte Bus für den geplanten Zuganschluss nach Hause – kommen würde.

Schnell vier Treppen hochgeflitzt zum Doc. Karte einlesen, zwei Worte plaudern, wieder runterflitzen. Vorschriftsmäßiges Überqueren der Straße via Fußgängerampel.

Auf der anderen Straßenseite spricht mich ein Rollstuhlfahrer an. Ich verstehe kein Wort. Der Mann nuschelt extrem. Ich hab noch immer keine besonders gute Laune. Und keine Nerven auf von der Seite blöd angemacht werden. Während ich versuche, freundliche Worte zu finden, lichtet sich in meinem Geist das Geräuschewirrwar aus Straßenverkehr, Menschen und den genuschelten Worten des Mannes. „Ich kenn dich“, sagt er. Mein Blick bleibt sekundenlang in seinem Gesicht. „Ich dich auch“, denke ich. Und schlucke. Wenn mich nicht alles täuscht, ist er in meinem Alter, eher sogar jünger. Ich kenne ihn von früher, eigentlich auch nur vom Sehen. Keiner, den ich näher kennen mochte. Da sitzt er nun im Rollstuhl, Lähmungserscheinungen im Gesicht, Sabber im Mundwinkel und die Zigarette in der Hand.

„Du wohnst auch in G“, entnehme ich seinem Genuschel. „Ja, ich hab da auch gewohnt.“ (Wir sind vor fast 10 Jahren weggezogen, aber in der Gegend geblieben.) Mehrmals wiederholt er seine zwei Sätze und ich bestätige jedes Mal aufs neue. Dann kommt ein „Kannste mich zum Krankenhaus schieben?“ Mein Kopf sucht nach einer höflichen Absage. Ich muss doch zum Bus, ich muss heim, das Kind holen und zur Musikschule fahren. Und während der Kopf die Worte sucht, ballt sich in meiner Brust ein kleiner silberner Nebel zu einer Kugel zusammen, drückt sich durch die Kehle nach oben, zaubert ein Lächeln in mein Gesicht und die Worte „Klar doch“ auf meine Lippen.

Und so schiebe ich den Rollstuhl, versuche den Zigarettenrauch wegzuatmen, der mir in die Lunge kriechen will und konzentriere mich auf die genuschelten Worte des Mannes vor mir im Rollstuhl. „Was hustet du?“ „Das ist dein Zigarettenqualm.“ Bedächtig wechselt die Zigarette die Hand.

Wir erreichen die Klinik, ich soll ihn bei den draußen sitzenden Pflegern parken. Die eine fragt ihn, wo er denn schon wieder war. Er soll doch nicht immer unabgemeldet los. Ich erkläre, dass er mich an der Ampel aufgegabelt hat. Dass er ein gutes Gedächtnis für Gesichter besitzt. Und mich wiedererkannt hat. Dass wir uns von früher kennen. Dann verabschiede ich mich, mache mich auf den Weg zurück zur Bushaltestelle … und erreiche pünktlich den Bus, mit dem ich meinen Zug noch schaffe.

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